Es war fast schon lächerlich, in was für einer Situation sich Cho gerade befand. Gut, dass die Situation so aus dem Ruder laufen würde, hätte ja auch niemand vorhersagen können, aber trotzdem, Bizarr. Eigentlich hatte der junge Chirurg überhaupt nicht vorgehabt, hier her zu kommen, genau genommen hatte er bis heute gar nicht gewusst, dass es dieses Restaurant gab. Man hatte es ihm empfohlen und DAS bekam er dafür, einen Rat zu befolgen. Die wahrscheinlich bescheuertste Gegnerin diesseits der Red Line. Das Fischmenschen Freaks waren, hatte Cho schon immer gewusst, aber das Ausmaß war neu für ihn. Anscheinend war es für Fischmenschen zum Beispiel in Ordnung Amok zu laufen und andere halbtot zuschlagen. Es war aber nicht in Ordnung, besagten Fischmenschen während ihres Anfalls einen Kratzer zu verpassen, wenn man sich nicht eine bornierte Ansprache gefallen lassen wollte. Das nächste, was Cho gelernt hatte war, dass Fischmenschen sich gerne mit Schwächeren einließen, aber nur wenig gegen richtige Kämpfer vorzuweisen hatten. Ernst, der junge Arzt hatte schon gegen Malpractice Anfänger gekämpft, die mehr Elan an den Tag gelegt hatten. Der Blondfisch war nicht ungelenk, aber zeigt kaum Initiative. Gut, er hatten den Vorteil eine – genaugenommen mehrere – Waffe zur Hand zuhaben, aber wo blieb die Fischmenschenpower, von der er soviel gehört hatte? Der dritte Punkt, den Cho erfuhr war, dass Fischmenschen wohl selbst dann davon überzeugt waren, etwas besseres zu sein, wenn sie klar unterlegen waren – und dass sie das wütend machte. Es war eine ziemlich negative, einseitige Ansicht, die der Malpracticer von der Fischmenschin erhalten hatte und das machte ihn schließlich zu siegessicher. Cho selbst gab die Öffnung preis, mit der Jool zurückschlagen konnte, zumindest fürs erste. Der Stuhl entwaffnete ihn, ein heftiger Fausthieb riss ihn von den Füßen.
Rias schlug schmerzhaft auf den Rücken auf. Sein Untergrund war uneben, spontan hätte er gesagt, er lag auf den Überresten eines demolierten Tisches. Seine Augen hatte er geschlossen und das erste, was er machte, war lauschen. Heftiges Atmen, keine Schritte. Blondfisch bewegte sich nicht auf ihn zu um das ganze zu beenden. Entweder Anfängerfehler, oder aber übersteigertes Selbstvertrauen. Aber um die ging es jetzt gar nicht. Stattdessen checkte er sich selbst. Als Arzt UND Kämpfer war er mit seinem Körper gut vertraut und konnte so meistens seinen eigenen Zustand ermitteln, ohne Hände oder Augen zu benutzen. 'Keine Schmerzen im Abdomen, leichtes ziehen im Linea Sternalis, wahrscheinlich durch den Aufprall. Gefühl in Zehen und Fingerspitzen, also keine Verletzung der Wirbelsäule.' Soviel zum Sturzschaden, im Grunde keine vorhanden. Der eigentliche Treffer war jedoch im Gesicht, dem ging es nicht ganz so gut. Er bewegte leicht die Wangen und stöhnte lautlos. 'Erhöhte Beweglichkeit der rechten Wangenmuskulatur, wahrscheinliche Fraktur des Jochbeins. Und anscheinend ist Nummer komplett los. Fuck jetzt muss ich auch noch zu einem Zahnarzt.' Brachte ja nichts, sich weiter darüber aufzuregen. Sein Fehler, so was passierte. Noch war er vollkommen Kampftüchtig, also bestand keine Gefahr. Er rollte sich auf den Nacken, winkelte die Beine an und sprang mit einem Satz wieder auf die Füße. Seine Hände zückten die verlängerten Stahlskalpelle von seinem Gürtel, die so kein Arzt benutzen würde. "Das war nicht schlecht, echt jetzt, aber so leicht besiegst du mich nicht, Schlampe." Die Fischmenschin explodierte förmlich, als ihr Gegner sich wieder erhob, aber Cho hätte das nicht weniger stören können. Die kleine Schlampe musste ihre Lektion lernen und wer würde schon darum trauern, wenn eine Frau plötzlich kein Stethoskop mehr richtig halten konnte? Auf einer Insel voller Ärzte sicherlich niemand. Rias verengte seine Augen zu Schlitzen. Sein Ziel war es, die Muskulatur zu zerstören, die für das Greifen zuständig waren. Etwa 20 Ziele, pro Arm natürlich, aber machbar. Um so leichter, wenn er sie vorher richtig zur Sau machte!
"Reg dich ab, Blondfisch, echt jetzt. Be cool … und keine Angst wegen der Messerchen hier, ich bin Arzt. Klar soweit?" Das vernarbte Gesicht grinste Breit und offenbarte strahlend weiße Zähne mit einer deutlich sichtbaren Lücke. Ohne weitere Warnung stürmte Cho vor. Er war kein Freund davon, seinen Attacken Namen zu geben, wie so viele es taten. Ein Angriff sollte für sich selbst sprechen! Jool versuchte es mit einer Konterattacke, aber ohne seinen Ansatz zu kennen, konnte sie nicht viel machen. Cho tauchte unter den Schlägen weg wie Wasser. Er näherte sich der Fischmenschin fast schon tänzerisch, immer auf einen Hieb wartend, um diesen auszuweichen und etwas näher zu kommen. Immer wieder flitzten die Skalpelle vor und hinterließen kleine Schnitte überall auf Jools körper. Nichts tiefes, nichts ernsthaftes. Keiner dieser feinen Schnitte würde eine Narbe hinterlassen, aber sie taten weh! Schließlich drehten die beiden sich fast Aug in Aug umeinander, bis Jool in der Position war, die er angezielt hatte. Er stand genau hinter ihr, die Klingen direkt über den Arterien in ihren Armen. "Bewegst du dich, bist du tot, Bitch.", flüsterte Rias ihr ins Ohr, immer sein breites Grinsen im Gesicht. "Aber don’t panic, echt jetzt. Ich kill dich nicht und unser Kampf ist gleich vorbei!" Eines der Skalpelle bewegte sich von der Pulsader weg und hin zur Hand. Gleich würde Jool Linkshänder werden müssen. Zumindest für ein paar Sekunden.
"Cho, genug! Ich denke du hast deinen Punkt klar gemacht!" Die Stimme eines älteren Herren dröhnte durch den Raum. Herrisch, mit leichten Akzent, aber der Sprechweise her eindeutig ein Gentleman. Der Malpracticer stoppte mitten in der Bewegung, als wäre er versteinert. "D-Doktor Liebert? Ich habe nicht damit gerechnet, sie hier zutreffen," stotterte Cho nervös und entfernte sich sofort einige Schritte von Jool, bevor er sich vor dem Neuankömmling verbeugte. Oder besser gesagt, vor den Neuankömmlingen, denn es waren zwei. Der Sprecher, von Cho Doktor Liebert genannt, war sicherlich um die 40 Jahre alt, hatte Schulterlange, schwarze Haare und einen raffiniert ausrasierten und sehr kurzen Vollbart. Statt eines typischen Kaba-Kittels trug er einen schwarzen Anzug, auf dessen Brust eine Nadel mit einer silbernen Zwei steckte. Hinter ihm stand eine junge Frau, deren Gesicht ähnlich vernarbt war, wie das von Cho. Sie trug einen dunkelroten Laboranzug und darüber einen Grünen Kittel von Sektor zwei. Sie sagte nichts, schien sich kaum für die Situation zu interessieren. Ihre einzige Aufgabe schien es zu sein, Lieberts Rollstuhl zu schieben. Denn der gute Doktor schien über keinen Unterleib, geschweige denn Beine zu verfügen. "Ich bin mir fast sicher, dass sie nicht damit gerechnet haben, Mister Rias." Liebert legte besondere Betonung darauf, dass er den Doktortitel wegließ, eine üble Beleidigung auf dieser Insel. Aber Cho schien das nicht zu interessieren. "Gehen sie nun bitte zurück nach Sektor zwei und warten sie in meinem Büro. Das ganze hier wird noch folgen haben, junger Mann."
Wie ein geprügelter Hund zuckte Cho zusammen, dann nickte er, sammelte seine Sense ein und verschwand. Lieberts Blick folgte ihm, bis er das Restaurant verlassen hatte, dann widmete der Doktor sich der Fischmenschin. "Bitte verzeihen sie ihm sein Temperament, meine Liebe." begann er höfflich und beugte leicht den Kopf als Geste der Entschuldigung. "Ein guter Arzt, aber mit einem schlechten Charakter. Ich nehme an, sein limbisches System hat eine gewisse Fehlfunktion, die zu sadistischem Verhalten führt. Wie der gute Junge bereits gesagt hat, ich bin Doktor Alexander Liebert. Normalerweise würde ich sie nun nach ihrem Namen fragen, aber es ist fast ein Ding der Unmöglichkeit, sie nicht zu erkennen, Doktor Horalis. Ich gebe zu, ich finde die Fischmenschen als Rasse faszinierend, aber sie sind ... selbst unter ihren Artgenossen eine Augenweide." Es ist nicht leicht eben diese Worte zu sagen, ohne wie ein Charmeur oder Schleimer zu klingen, aber Doktor Liebert schaffte genau dies. Er klang höflich und aufrichtig, nicht wie jemand mit Hintergedanken. Einen Augenblick lang verstummte der Gehandicapte, vielleicht um Jool Chance auf eine Erwiderung zu geben, aber er wirkte äußerst nachdenklich. "Sagen sie mir, meine Liebe, haben sie nicht Lust, einem alten Mann ein wenig Gesellschaft zu leisten? Ich würde mich über etwas Gesellschaft freuen und es schadet mir sicherlich nicht, wenn ich eine der heranwachsenden Koryphäen von Kaba näher kennen lerne. Ich bin erst vor kurzem wieder Heim gekehrt und suche derzeit nach einem neuen Protegé, den ich für das Experimentalkrankenhaus ausbilden kann. Bisher ist Mister Rias meine einzige Wahl, aber seien wir ehrlich, ich finde er ist ein deutlich besseres Testsubjekt, nicht wahr?" Ein leises, höfliches Kichern entwich seiner Kehle, während seine Assistentin sich eine Hand vor den grinsenden Mund hob.