Wie ein Messer durch warme Butter glitt die Dragon in den größten Hafen der Sonneninsel ein. Mit großen Augen stand Shien vorn am Bug der Dragon, die Arme vor der Brust verschränkt, und ließ seinen Blick von einem Schif zum nächsten wandern. Hier in Sunny, der Hauptstadt der Sonneninsel, legten Tag für Tag mit Sicherheit hunderte fremde Menschen aus der ganzen Welt an - wenn die Kabukis hier nicht ihren letzten Mitstreiter finden konnten, wo dann? Abgesehen davon musste es in dieser wahnsinnigen Masse von leuten auch solche geben, die das Talent des Schwarzen angemessen zu würdigen wussten, und die begierig darauf waren, von den Abenteuern der bald erfolgreichsten Crew der Welt zu hören.
In Gedanken an jubelnde Menschenmassen vertieft musterte Shien eindringlich die Umgebung. An den Anlegestellen waren kleine Schiffe, große Schiffe, Handelsschiffe, Kriegsschiffe, schwarze Schiffe, weiß-blaue Schiffe und sogar grüne Schiffe festgemacht, und überall gingen hafenarbeiter und Matrosen ihren Aufgaben nach. Shien entdeckte eine kleine Meute junger Wasserratten, die vergeblich versuchten, eine gewaltige Kiste in Richtung eines großen Frachters zu zerren. In der Nähe stoplertern leicht angeheiterte Seeleute aus einer nicht einmal annährend so heruntergekommen wirkenden Bar, wie das Wild Cherry es gewesen ist, und versuchten vergebens an einander Halt zu finden. In diesem Durcheinander erspähten die Argsaugen des Kapitäns auch immer wieder gut gekleidete Damen, die mit den muskelbepackten Männern tuschelten und lachten.
Shiens Lippen verformten sich zu einem Grinsen. *Hier schlägt wahrlich der Puls des Lebens! Eine Bühne, die einem ersten Akt angemessen ist!*
Während die Dragon nach einem Anlegeplatz suchte und Shien noch immer am Bug stand, trat Eol an ihn heran. Mit deutlichem Zweifel in der Stimme sagte er:
"Käpt'n sie wissen aber um die momentane politische Lage zwischen der Sonnen- und der Mondinsel oder? Meinen sie wirklich es wäre gut hier jetzt zu halten?"
Der Kopf des schwarzen drehte sich kaum merklich zur Seite, kurz bevor Shien schwungvoll herumwirbelte und seinen Zimmermann von oben herab ansah.
"Politische Lage? Mister Anglachel, wir sind wilde Piraten! Sollen wir uns tatsächlich vor irgendwelchen Verwaltern und Bürokraten fürchten, die ihre Grenzen nicht gezogen und ihre Steuern nicht eingetrieben kriegen?" Ein holes Lachen kroch aus Shiens Kehle. "Glaubt mir, das hier ist er. Er, der Ort unseres nächsten Abenteuers." Shiens Blick löste sich vom rundlichen Gesicht seines Zimmermanns, dann nickte er kurz in Richtung der Segel, bevor er sich schließlich wieder nach vorne umdrhete. "Kümmert euch um unser Schiff und greift der verehrten Miss Black etwas unter die Arme, ja?"
Gemütlichen Schrittes nahm Shien die Treppen nach unten, als die Dragon mit einem Ruck zum Stehen kam. Jennifer hatte einen Anlegeplatz gefunden und das Schiff sicher in den Hafen geleitet. Die grünhaarige Frau schien wirklich ein Geschenk des Schicksals gewesen zu sein, mit ihr würden die Kabukis mit Sicherheit auch den heftogsten Sturm überstehen können. Mit ihr, und natürlich mit der Muskelkraft der restlichen Besatzung.
An Deck angekommen schaute Shien kurz über das Deck, bevor er sich seiner Navigatorin zuwandt, die mit prüfendem Blick bereits an Land stand und den Rumpf der Dragon musterte. Er trat zur Reling, beugte sich hinüber und sagte:
"Gute Arbeit, Miss Black, das muss man euch lassen. Was haltet ihr davon wenn ihr uns später erzähltet wo ihr gelernt habt, ein Schiff so vorzüglich zu steuern?"
Shien blinzelte ihr zu, bevor seine Aufmerksamkeit von einer rundlichen Gestalt an der Seite der zierlichen Navigatorin geweckt wurde. Der Schwarze inspizierte den Fremden von unten bis oben mit zusammengekniffenen Augen und ansonsten neutraler Miene. Die schwrazen Lederstiefel waren auf Hochglanz poliert, die marineblaue Hose erstrahlte in frischgewaschener Pracht. Wo ein Gürtel gewesen sein könnte hing ein blütenreines weißes Hemd über dem Hosenbund, dessen silberne Knöpfe im Sonnenlicht glitzerten. Der feine Stoff hing über einem ausladenden Bauch der jeden Versuch, das Hemd in die Hose zu stecken, zum Scheitern verurteilte. Zum Glück lenkten die Knöpfe und einige Symbole auf der Brust und den Schultern des Mannes etwas von dem großen, weißen Ballon ab, der seinen Torso darstellte. Auch ohne Vorwissen erkannte Shien, mit wem sie es hier zu tun haben mussten, auch wenn sein Mantra "Sie müssen Hafengebür bezahlen!" beim Erraten seiner Funktion im Hafen natürlich half. Diese Worte stoben immer wieder aus dem von dicken Lippen umrandeten Mund hervor, der inmitten eines kreisrunden, aufgedunsenen, aber gebräunten Gesichtes gemeinsam mit einer flachen Nase und wässrigen, kleinen Augen lag. Gekrönt wurde das Antlitz des Hafenarbeiters von einer Brille, deren Gläser mindestens ein, zwei Zentimeter Dicke zählten. Doch selbst hinter diesen Glasklötzen wirkten die farblosen Augen im vergleich zum Rest des Gesichtes winzig.
Shien seufzte. *Das ist der erste der Schurken? Ich hoffe, das wird in den nächsten Akten besser...* In seinem Kopf spielte Shien bereits die Performance ab, die er gleich abliefern würde: Geschickt würde er über die Reling der Dragon springen, auf einem Bein landen, seine Pose einnehmen und mit selbstsicherer Stimme seinen Namen verkünden. Aus irgendienem Grund jedoch konnte sich der Kapitän der Kabukis nicht dazu aufraffen, diesen Plan auch in die tat umzusetzen. Shiens Glieder fühlten sich taub an, und sein Kopf ruhte schwer auf der Hand, mit der er ihn abstützte. Beinahe reglos beobachtete er, wie der Karottenkopf namens Dwain zu den rundlichen Verwalter trat und ihn in ein Gespräch verwickelte.
Shien schüttelte den Kopf, während seine eigene Stimme in seinen Ohren viel lebhafter klang als er sich selbst fühlte. *Was ist denn los mit dir? Das dort ist deine Aufgabe! Der Fetti will die Hafengebühren kassieren, und du klemmst hier schlaff an der Reling und lässt den Neuen die Sache regeln? Erinnerst du dich nicht mehr was das letzte Mal passiert ist, als du diene Crew mit den Hafengebühren allein gelassen hast? Kümmer dich gefälligst drum, oder du sitzt was deine Crew anbelagt bald wieder auf dem Trockenen!*
Mit langsamen Bewegungen löste sich Shien von der Reling. Ein Seufzer kroch zwischen sienen Lippen hervor, als er sich auf die Reling schwang und zu voller Größe aufbaute. Mit dem Blick vor sich nach unten gerichtet ließ er seine Stimme zuerst in Richtung Dwain erschallen. Wobei "Erschallen" eigentlich zu viel gesagt wäre: Die Worte kamen dem Kapitän nur leise und widerwillig über die Zunge.
"Mister Kusaka, das Geld das ihr braucht ist in einer Truhe im... im Rumpf der Dragon. Nun zu euch." Shien fixierte den Hafenarbeiter. "Wie hoch..." Aus dem rundlichen Körper des Fremden lösten sich plötzlich mehrere wabernde Schatten, die um dessen langsam zerfließende Gestalt tanzten. *Was ist denn..?* Seine Beine durchjagte plötzlich ein unangenehmes Zittern. Beides ignorierend versuchte Shien fortzufahren: "Die Hafengebühren, wie... wie hoch sind die... die Gebühren..."
Als seine Beine unter ihm nachgaben und sein schlaffer Körper vornüber in Richtung des schmalen Stegs fiel, auf dem noch immer Jennifer, Dwain und der Hafenarbeiter standen, verblasste die Welt in den Augen des Kapitäns der Dancing Dragon bereits und wich einer drängenden Dunkelheit.